“Russische Haus” in Berlin zeigt sowjetische Tourismusplakate – Interview mit Sammler Oliver Kempkens

Das “Russische Haus der Wissenschaft und Kunst” in Berlin-Mitte ist ein umstrittener Ort. Seit dem Angriff auf die Ukraine demonstrieren Menschen vor einem riesigen, oft leerstehenden Gebäude in der Friedrichstraße. So auch, als kürzlich in der „Tolstoi-Halle“ die Ausstellung historischer Werbeplakate aus der Sowjetunion eröffnet wurde. 22 Plakate der staatlichen Tourismusagentur Intourist werden ausgestellt. Sie sollten zwischen 1929 und 1989 Reisende aus Westeuropa in die UdSSR locken – und sind ein bleibendes Zeugnis des Anspruchs und der Ästhetik des untergegangenen Imperiums. Er bewarb das Zusammenleben von 189 Völkern, unterdrückte sie aber teilweise. Während der Geist des sogenannten „Sowjetrusslands“ regierte, zeigte sich in den Teilrepubliken die Idylle unberührter Landschaften und unschuldiger Menschen: in Armenien, Weißrussland, Georgien und natürlich in der Ukraine. Die originellen und originellen Plakate sind Teil einer größeren Sammlung des in Essen geborenen Oliver Kempkens. ntv.de sprach mit dem Geschäftsmann und selbsternannten „Sowjet-Nostalgiker“ über seine Sicht auf das Motiv und den umstrittenen Ausstellungsort.

ntv.de: Herr Kempkens, Sie sammeln Reiseplakate aus dem verlorenen Reich: der Sowjetunion. Warum?

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Oliver Kempkens kauft, was ihm gefällt.

Oliver Kempkens: Mit 17 Jahren ging ich zum ersten Mal nach Lettland, dem Nachfolgestaat der Sowjetunion. Der Zerfall der Sowjetunion war immer noch ein Thema, er hat mich neugierig gemacht und ich wollte ein kleines historisches Attribut aus dieser Zeit besitzen. Ich sah mein erstes Plakat, eine Nachbildung eines Moskauer Plakats aus den späten 1930er Jahren. Ich war bald auf der Suche nach dem Original, aber zuerst musste ich darauf sparen.

Sind Plakate Kunst oder Kitsch?

Nachdem ich mich 20 Jahre damit beschäftigt habe, spreche ich von drei Phasen: In der ersten, von 1929 bis etwa 1939, wurden berühmte Künstler und Grafiker wie Maksim Zhukov oder Maria Nesterova-Bersina eingesetzt. Auch in der zweiten Phase orientierten sich die Plakate stark an der ersten Phase, oft ohne Autorennamen. Danach kamen immer mehr Trash und Kitsch. Ich kaufe aus allen drei Stufen, was mir gefällt.

Wie würden Sie den Stil des Posters beschreiben?

Die erste Phase war prägend. Ihr Design spiegelt die Moderne wider und ist konstruktivistisch. Stilisierungen von Figuren, Objekten oder Landschaften sowie farbige und flächige Darstellungen sind dem Art déco zuzurechnen. Dieser Stil hielt nicht ewig. Am Ende standen viele Collagen – mal mehr, mal weniger günstig.

Ähnliche Motive sind vor allem aus der ersten Phase bekannt, beispielsweise als Werbung für Schweizer Skigebiete oder für die Côte d’Azur. Wer hat dann wen bestohlen?

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Die ersten waren die Franzosen und die Schweizer. Es ist klar, dass die Sowjets einen Großteil davon angeeignet – oder einfach gestohlen – haben. Aber nach östlicher Philosophie ist es auch Anerkennung. Außergewöhnlich ist übrigens der Einfluss des im Westen tätigen französischen Malers Cassander. Geboren und aufgewachsen ist er als Adolphe Mouron in Charkiw – der Stadt in der Ukraine, die wir heute alle kennen.

Was ist dein Lieblingsfach?

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Lieblingsbild

Davon gibt es mehrere: Das „Leningrad“-Plakat mit der Militärakademie und die beiden Seile, die als Pause über das Bild führen, laden zur Interpretation ein. Das Plakat „Stalingrad“ erinnert mich an die Region Wolgograd und meinen ersten Urlaub als Jugendlicher in Russland. Es war eine tolle Zeit, in der ich auch die Melancholie der Menschen gespürt habe. Ich finde sie in der Andeutung eines großen Grabes. Das „Baku“-Motiv mit einer Ölraffinerie – übrigens mein teuerstes Plakat – hat eine besondere Geschichte. Aber Sie müssen wissen, dass Alfred Nobel in einer Ölstadt lebte und aus seinem Einkommen einen Teil des Friedensnobelpreises finanzierte. Momentan sticht das Plakat “Sowjetische Ukraine”, von dem ich den Originalentwurf habe, definitiv heraus. Es zeigt, was die Führung in Moskau beschäftigt: Erntehelfer im Hintergrund, die Industrialisierung des Landes und ein unglaublich exotisches Mädchen. Kurz gesagt: eine ungeschickte und verzweifelte Zurschaustellung von Provinzialismus.

Sie haben die Preise erwähnt. Wie haben sie sich entwickelt?

Ich habe zwischen 150 und 24.000 Dollar bezahlt. Das bereits erwähnte Motiv „Moskau“ kostete etwa 1.000 Euro. Heute schätze ich es auf 5000 bis 6000 Euro. Kein billiges Hobby, aber ein nützliches.

Hat sich das schon herumgesprochen?

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Oliver Kempkens und Moderator des Abends Yuri Kolesnitschenko (von links).

Vor ein paar Jahren musste ich erleben, dass es Menschen gibt, die in Plakaten keinen Wert sehen. Mein damaliges Lieblingsplakat zeigte die fünf sogenannten „Stans“: Usbekistan, Kasachstan, Turkmenistan, Aserbaidschan und Kirgisistan, das auf Englisch Kirgisistan heißt. Ich habe es für 1200 Euro bei Ebay in den USA gekauft und dem Rahmenhersteller gegeben. Da stand es in einer unglücklichen Ecke, wo jemand dachte, es sei Müll – und es weggeworfen hat! Seitdem suche ich es überall, es ist extrem selten.

Wie viele Kandidaten haben Sie?

Ich kenne drei: einen in Spanien lebenden Investor aus Russland, einen in Warschau lebenden Japaner und einen in Großbritannien lebenden Russen.

Würden Sie sich eher als Spekulant oder als Sowjetnostalgiker bezeichnen?

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“Aber ein unglaublich exotisches Mädchen: eine ungeschickte und verzweifelte Darstellung des Provinzialismus.”

Als die Sammlung 2019 im Museum der Stadt Moskau gezeigt wurde, bot man mir eine Million Dollar an – eine riesige Summe. Wenn ich ein Spekulant wäre, würde ich sie verkaufen. Da diese Option verschwand, blieb wohl oder übel eine andere Option übrig: die sowjetische nostalgische.

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Was fandest du außer den Plakaten toll an der Sowjetunion?

Tatsächlich hat in der Sowjetunion nichts Bestand. Die Plakate gehören zu den wenigen tollen Dingen, die übrig geblieben sind. Sie sind der Spiegel einer großartigen Idee, die nie Wirklichkeit wurde, sondern nur in den Köpfen einiger weniger Protagonisten existierte. Im Zentrum ihrer Ideologie stand die Vision eines neuen Menschen, der nicht an Gott glaubte, kein Privateigentum hatte und hart arbeitete. Der Sowjetmensch war ein mutiges und bewundernswertes Ideal. Tatsächlich hat sich ein opportunistischer Typ entwickelt, der dem Kapitalisten in nichts nachsteht, der sich durch- und als „Homo sovieticus“ wurde gelacht.

Ist auf diesen Plakaten die Geschichte der Sowjetunion abgebildet?

Betrachtet man den Aufwand und die Weitsicht, wird eines klar: Die Plakate wurden immer schlechter. Die Bilder unter Stalin verraten viel Ehrgeiz und Motivation, die ganze Welt von dieser großen Idee zu überzeugen: Gleiche Lebensbedingungen für das sowjetische Volk in den prächtigen Metropolen und Provinzen. Viele Plakate waren unter Chruschtschow noch von hoher Qualität, aber sie sind verschwunden. Unter Breschnew war es nur Müll, Andropow und Tschernenko hatten wahrscheinlich andere Sorgen, und Gorbatschow beschäftigte sich schließlich mit ganz anderen Themen.

Wie politisch ist es heute, Ihre Sammlung zu zeigen?

Die Sowjetunion ist nicht Russland, aber beide werden und wurden synonym verwendet, auch von vielen Menschen in Deutschland: gesellschaftlich, politisch und historisch. Timothy Snyder oder Karl Schlögel haben diesen Fehler treffend beschrieben. Meine Plakate illustrieren den fehlenden Vielvölkerstaat. Wer sich das zu eigen macht, macht Politik mit einem Fantasiereich.

Die Tatsache, dass das Russische Haus Ihre Sammlung ausstellt, erweckt den Eindruck, dass die UdSSR der Vorläufer des russischen Imperiums war, das Putin anstrebte.

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Demonstration vor dem “Russischen Haus” in Berlin.

(Foto: P. Littger)

Russland war die einzige ehemalige Sowjetrepublik, die ihre Unabhängigkeit nicht erklärte, sondern behauptete, die Rechtsnachfolgerin der Sowjetunion zu sein. Deshalb ist es formal wohl keine Aneignung, sondern eine legitime Behauptung, die ich weder für gut noch für schlecht halte. Aktuelle Entwicklungen machen nachdenklich – und sehr wichtig!

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Viele der Plakate zeigen Gebiete außerhalb des heutigen Russlands: Armenien, Weißrussland, Georgien und immer wieder die Ukraine. Erlauben Sie im Russischen Haus Russland nicht, sich dieses Erbe anzueignen?

Das Russische Haus hat vor der Pandemie um eine Ausstellung gebeten. Niemand kümmerte sich um das Erbe der UdSSR. Also nahm ich das Angebot an.

Menschen, die Ihre Ausstellung sehen möchten, aber nicht aus Russland kommen, werden es schwer haben, ins Russische Haus zu kommen.

Am besten wäre ein neutraler Ausstellungsort in Berlin. Ich stimme zu.

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Realitätsfern und lächerlich?

Vor der Eröffnung der Ausstellung kam es vor dem Russischen Haus zu Protesten. Dort hieß es zum Beispiel, dass Ästhetisierung auch eine Art Kriegsführung ist – wenn die Realität einfach kopiert und als Idylle fruchtbarer und friedlicher Provinzen mit 189 verschiedenen Ethnien dargestellt wird. Verstehen Sie diese Kritik?

Ich verstehe die Wut und Enttäuschung der Menschen. Ästhetisierung ist immer und immer politisch, egal ob sie staatlich angeordnet ist oder ein Demonstrant ein schwarzes Banner mit roten Buchstaben malt. Wer heute gegen Russland demonstriert, darf nicht übersehen, dass meine Plakate Werbeplakate aus der Vergangenheit sind, die eine Illusion erzeugen, eine Illusion verkauft die Realität. Die staatliche Tourismusagentur Intourist hat Konflikte bewusst tabuisiert und kulturelle Unterschiede heruntergespielt. Es war so unwirklich und lächerlich wie die meisten Werbespots heute. Der russische Einheitsgedanke und der Führungsanspruch werden damit eher präsentiert als gefördert. Ich bin überzeugt, dass die Moral der Ausstellung der russischen Kritik in die Hände spielen wird!

Sie haben in Moskau promoviert und mehrere Jahre als leitender Angestellter bei der Sberbank gearbeitet. Sind Sie heute noch in Russland?

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Ich habe am Tag des Kriegsausbruchs gekündigt und bin nach Deutschland zurückgekehrt. Aber ich habe nicht alle Zelte abgebaut oder meine Brücken niedergebrannt. Schon allein deshalb, weil ich persönlich sehr viel mit Russland gemeinsam habe. Die Großeltern meiner Kinder leben dort und ich habe viele Freunde gefunden – für die die Situation nicht einfach ist. Ich bleibe bei meiner Position: Reden ist besser als nicht reden. Was können wir sonst noch tun? Jeder Krieg endet irgendwann. Obwohl eine Normalisierung an dieser Stelle unerreichbar erscheint, glaube ich, dass sie die Mühe wert ist. Während meines Studiums habe ich mich mit der russischen Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts beschäftigt, weshalb ich viele der Argumente verstehe – ohne sie alle vorzutragen. Solange ich meine kritische Meinung nicht verbergen und eine europäische Perspektive zeigen muss, werden Sie mich in Russland finden.

Peter Littger sprach mit Oliver Kempkens

Die Plakate im Russischen Haus sind noch bis zum 6. Februar zu sehen.

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